Die Dimensionalontologie ist das philosophische Fundament der Logotherapie und Existenzanalyse Viktor Frankls. Sie beschreibt ein ganzheitliches Menschenbild, das den Menschen in seiner Vielschichtigkeit erfasst, ohne ihn auf einzelne Aspekte zu reduzieren. Frankl entwickelte dieses Modell als Antwort auf die reduktionistischen Menschenbilder seiner Zeit, die den Menschen entweder nur biologisch, nur psychologisch oder nur soziologisch betrachteten. Die Dimensionalontologie zeigt, dass der Mensch gleichzeitig ein körperliches, seelisches und geistiges Wesen ist – wobei diese drei Dimensionen eine untrennbare Einheit bilden.
Das dreidimensionale Menschenbild
Die Dimensionalontologie unterscheidet drei Dimensionen menschlicher Existenz, die nicht als getrennte Schichten, sondern als unterschiedliche Aspekte einer Ganzheit zu verstehen sind. Frankl verwendete gerne geometrische Analogien, um dieses Konzept zu veranschaulichen: So wie ein Zylinder von der Seite als Rechteck und von oben als Kreis erscheint, zeigt sich der Mensch je nach Betrachtungsweise in unterschiedlichen Dimensionen.
Die somatische Dimension
Die somatische oder körperliche Dimension umfasst alles Physische am Menschen – seinen Körper mit all seinen biologischen Funktionen. Hierzu gehören die genetische Ausstattung, der Stoffwechsel, das Nervensystem und alle körperlichen Prozesse. Diese Dimension teilt der Mensch grundsätzlich mit allen Lebewesen.
In dieser Dimension ist der Mensch den Naturgesetzen unterworfen. Krankheiten, Alterungsprozesse und körperliche Bedürfnisse wie Hunger und Schlaf gehören hierher. Die moderne Medizin arbeitet primär auf dieser Ebene, wenn sie Krankheiten behandelt oder präventive Maßnahmen ergreift. Wichtig ist jedoch zu verstehen, dass körperliche Prozesse zwar die Basis bilden, aber nicht das Ganze des Menschen ausmachen.
Die psychische Dimension
Die psychische Dimension umfasst das seelische Erleben – Gefühle, Stimmungen, Triebe und Instinkte. Hier finden wir Emotionen wie Freude und Trauer, Angst und Mut, aber auch Bedürfnisse nach Sicherheit, Zugehörigkeit und Anerkennung. Diese Dimension teilt der Mensch weitgehend mit höheren Tieren.
Auf der psychischen Ebene reagiert der Mensch auf seine Umwelt, entwickelt Gewohnheiten und wird von unbewussten Prozessen beeinflusst. Die klassische Psychologie und Psychotherapie fokussieren sich oft auf diese Dimension, wenn sie Gefühle bearbeiten, Traumata heilen oder Verhaltensmuster verändern wollen.
Die noetische Dimension
Die noetische oder geistige Dimension ist nach Frankl das spezifisch Menschliche. Sie umfasst die Fähigkeiten zur Selbstdistanzierung und Selbsttranszendenz, das Gewissen, die Kreativität, die Religiosität und vor allem die Freiheit des Willens. In dieser Dimension ist der Mensch nicht determiniert, sondern kann Stellung nehmen zu dem, was in den anderen Dimensionen geschieht.
Hier liegt die Quelle menschlicher Würde und Verantwortung. Der Mensch kann kraft seiner geistigen Dimension auch unter widrigsten Umständen noch wählen, welche Haltung er einnimmt. Diese Dimension ermöglicht es ihm, über sich selbst hinauszuwachsen und sein Leben auf Sinn und Werte auszurichten.
Die Einheit in der Verschiedenheit
Das Besondere an Frankls Dimensionalontologie ist, dass sie die drei Dimensionen nicht als getrennte Bereiche versteht, sondern ihre untrennbare Einheit betont.
Das Prinzip der Ganzheit
Der Mensch ist immer gleichzeitig Körper, Seele und Geist. Eine Trennung dieser Dimensionen ist nur gedanklich möglich, nicht aber in der Realität. Jedes menschliche Phänomen hat Aspekte aller drei Dimensionen. Beispielsweise hat selbst ein rein körperlich erscheinendes Symptom wie Kopfschmerz oft psychische Komponenten (Stress) und kann die geistige Dimension beeinflussen (Sinnfragen bei chronischen Schmerzen).
Keine Hierarchie, sondern Integration
Frankl betonte, dass die geistige Dimension nicht „höher“ oder „besser“ ist als die anderen. Es geht nicht um eine Hierarchie, sondern um Integration. Ein gesundes, erfülltes Leben braucht alle drei Dimensionen: einen funktionierenden Körper, eine lebendige Psyche und einen aktiven Geist. Die Dimensionen durchdringen und beeinflussen sich gegenseitig.
Praktische Bedeutung
Die Dimensionalontologie hat weitreichende Konsequenzen für Therapie, Medizin und Lebensführung.
Für die Therapie
In der therapeutischen Praxis bedeutet die Dimensionalontologie, dass alle drei Dimensionen beachtet werden müssen:
- Körperliche Symptome können psychische oder existenzielle Ursachen haben
- Psychische Probleme können sich körperlich manifestieren
- Existenzielle Krisen können psychosomatische Beschwerden auslösen
- Heilung geschieht oft durch die Aktivierung der geistigen Ressourcen
Die Logotherapie nutzt besonders die noetische Dimension, um Heilungsprozesse anzustoßen. Sie aktiviert die geistige Freiheit des Menschen, um mit körperlichen oder psychischen Problemen konstruktiv umzugehen.
Für das Menschenbild
Die Dimensionalontologie bewahrt vor einseitigen Menschenbildern. Sie zeigt, dass der Mensch weder nur ein höher entwickeltes Tier (Biologismus) noch nur ein Produkt seiner Psyche (Psychologismus) noch nur ein geistiges Wesen (Spiritualismus) ist. Jede Reduktion auf eine Dimension verfehlt das Wesen des Menschen.
Integration verschiedener Ansätze
Die Dimensionalontologie ermöglicht es, verschiedene therapeutische und medizinische Ansätze zu integrieren, ohne sie gegeneinander auszuspielen. Medikamente wirken auf der somatischen Ebene, Psychotherapie auf der psychischen, und Logotherapie aktiviert die noetische Dimension. Alle haben ihre Berechtigung und können sich ergänzen.
In der modernen integrativen Medizin und Psychotherapie findet dieses Denken zunehmend Anklang. Die Psychosomatik etwa arbeitet an der Schnittstelle von Körper und Psyche, während die Psychoneuroimmunologie die Wechselwirkungen aller Dimensionen erforscht. Die Dimensionalontologie bietet einen philosophischen Rahmen, der diese Integration theoretisch fundiert und praktisch anleitet. Sie erinnert uns daran, dass wahre Heilung und Gesundheit nur möglich sind, wenn wir den Menschen in seiner Ganzheit sehen und behandeln.