Selbstdistanzierung

Die Selbstdistanzierung ist neben der Selbsttranszendenz eine der beiden grundlegenden menschlichen Fähigkeiten, die Viktor Frankl in seiner Logotherapie und Existenzanalyse herausgearbeitet hat. Sie beschreibt die einzigartige Möglichkeit des Menschen, zu sich selbst, seinen Gedanken, Gefühlen und Impulsen in Distanz zu treten und diese wie von außen zu betrachten. Diese Fähigkeit ist der Schlüssel zur inneren Freiheit und ermöglicht es uns, auch in schwierigen Situationen handlungsfähig zu bleiben. Während Tiere unmittelbar in ihren Reaktionen aufgehen, kann der Mensch innehalten und wählen, wie er reagieren möchte.

Grundlagen der Selbstdistanzierung

Die Selbstdistanzierung basiert auf der Erkenntnis, dass der Mensch nicht mit seinen psychischen Zuständen identisch ist. Wir haben Gedanken, aber wir sind nicht unsere Gedanken. Wir erleben Gefühle, aber wir sind mehr als unsere Gefühle. Diese Unterscheidung zwischen dem „Ich“ und den psychischen Phänomenen schafft einen Freiraum, in dem bewusste Entscheidungen möglich werden.

Die anthropologische Dimension

Aus anthropologischer Sicht macht die Selbstdistanzierung den Menschen zum Menschen. Sie ermöglicht ihm, über seine unmittelbaren Antriebe und Reaktionen hinauszugehen. Frankl sprach von der „noogenen Dimension“ – der geistigen Ebene des Menschen, die über die psychophysische Ebene hinausreicht. Auf dieser Ebene ist der Mensch frei, zu seinen Trieben, Stimmungen und Konditionierungen Stellung zu nehmen.

Diese Freiheit zeigt sich besonders eindrucksvoll in Extremsituationen. Frankl selbst erlebte in den Konzentrationslagern, wie Menschen trotz äußerster Entbehrungen ihre innere Würde bewahren konnten. Sie bewiesen, dass der Mensch auch unter schlimmsten Bedingungen noch die Freiheit hat, seine Einstellung zu wählen.

Neurobiologische Grundlagen

Moderne neurowissenschaftliche Forschungen bestätigen Frankls Intuition. Die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung ist im präfrontalen Kortex verankert, jenem Hirnareal, das für Planung, Impulskontrolle und bewusste Entscheidungen zuständig ist. Durch Achtsamkeitstraining und Meditation kann diese Fähigkeit nachweislich gestärkt werden. Die Neuroplastizität des Gehirns ermöglicht es, diese „Muskeln der Selbstdistanzierung“ gezielt zu trainieren.

Formen und Techniken der Selbstdistanzierung

Die Selbstdistanzierung kann auf verschiedene Weisen praktiziert und in therapeutischen Kontexten gezielt eingesetzt werden.

Der innere Beobachter

Eine grundlegende Technik ist die Entwicklung eines „inneren Beobachters“. Dabei lernt der Mensch, seine eigenen Gedanken und Gefühle wahrzunehmen, ohne sich mit ihnen zu identifizieren. Statt zu sagen „Ich bin wütend“, sagt er „Ich bemerke, dass in mir Wut aufsteigt“. Dieser kleine sprachliche Unterschied schafft bereits Distanz und eröffnet Handlungsspielräume.

In der Praxis kann dies durch einfache Übungen gefördert werden:

  • Regelmäßige Selbstbeobachtung: „Was denke und fühle ich gerade?“
  • Benennen von Gefühlen: „Ah, da ist wieder die Angst.“
  • Perspektivwechsel: „Wie würde ein wohlwollender Freund meine Situation sehen?“

Humor als Distanzierungsmittel

Frankl betonte die besondere Rolle des Humors für die Selbstdistanzierung. Humor ermöglicht es, über sich selbst zu lachen und die eigenen Schwächen mit Leichtigkeit zu betrachten. Er ist eine Form der Selbsttranszendenz, die gleichzeitig Distanz schafft. In der Therapie kann Humor helfen, verhärtete Muster aufzubrechen und neue Perspektiven zu eröffnen.

Die paradoxe Intention

Eine spezifische logotherapeutische Technik ist die „paradoxe Intention“. Dabei werden Patienten angeleitet, genau das herbeizuwünschen, wovor sie sich fürchten – allerdings in übertriebener, humorvoller Form. Ein Mensch mit Errötungsangst könnte sich vornehmen, „der beste Erröter der Stadt“ zu werden. Diese Technik nutzt die Selbstdistanzierung, um den Teufelskreis der Angst zu durchbrechen.

Praktische Anwendungen

Die Selbstdistanzierung findet in verschiedenen Bereichen praktische Anwendung und zeigt dabei ihre vielfältige Wirksamkeit.

In der Psychotherapie

In der therapeutischen Praxis ist die Förderung der Selbstdistanzierung oft ein erster wichtiger Schritt. Bei Angststörungen hilft sie, nicht in der Angst aufzugehen. Bei Depressionen ermöglicht sie, negative Gedankenmuster zu erkennen und zu hinterfragen. Bei Zwangsstörungen schafft sie Raum zwischen Impuls und Handlung.

Die moderne Verhaltenstherapie hat viele Elemente der Selbstdistanzierung integriert, etwa in Form der kognitiven Umstrukturierung oder der Achtsamkeitsbasierten Therapie. Die Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) arbeitet explizit mit der „Defusion“ – der Loslösung von Gedanken.

Im Alltag und Berufsleben

Auch außerhalb therapeutischer Kontexte ist die Selbstdistanzierung wertvoll. Im Berufsleben hilft sie, in Stresssituationen einen kühlen Kopf zu bewahren. In Konflikten ermöglicht sie, die eigenen Emotionen zu regulieren und konstruktiv zu bleiben. In der Führung unterstützt sie dabei, reflektiert und nicht reaktiv zu handeln.

Die Balance finden

Bei aller Bedeutung der Selbstdistanzierung ist es wichtig, eine gesunde Balance zu finden. Zu viel Distanz kann zu emotionaler Kälte und Entfremdung führen. Das Ziel ist nicht, Gefühle zu unterdrücken oder ständig „über den Dingen zu stehen“.

Vielmehr geht es darum, die Fähigkeit zur Distanzierung als Werkzeug zu nutzen, wenn es hilfreich ist. In Momenten der Überwältigung schafft sie Raum zum Atmen. In festgefahrenen Situationen eröffnet sie neue Perspektiven. Sie ist kein Dauerzustand, sondern eine Fähigkeit, die uns in herausfordernden Momenten zur Verfügung steht. Die Kunst liegt darin, sowohl in seinen Gefühlen präsent sein zu können als auch die Fähigkeit zu bewahren, einen Schritt zurückzutreten, wenn es der Situation dienlich ist.

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