Selbsttranszendenz

Selbsttranszendenz ist ein zentrales Konzept der Existenzanalyse und Logotherapie, das von Viktor Frankl entwickelt wurde. Es beschreibt die grundlegende menschliche Fähigkeit, über sich selbst hinauszugehen und sich auf etwas oder jemanden außerhalb seiner selbst auszurichten. Diese Eigenschaft unterscheidet den Menschen fundamental von anderen Lebewesen und ist der Schlüssel zu einem sinnerfüllten Leben. Frankl sah in der Selbsttranszendenz das eigentliche Wesen menschlicher Existenz – nicht die Selbstverwirklichung, sondern die Hingabe an eine Aufgabe oder einen Menschen führt paradoxerweise zur tiefsten Form der Erfüllung.

Das Wesen der Selbsttranszendenz

Selbsttranszendenz bedeutet wörtlich „über sich selbst hinausgehen“. Es ist die Fähigkeit des Menschen, nicht bei sich selbst stehenzubleiben, sondern sich auf die Welt, auf andere Menschen oder auf Werte und Aufgaben auszurichten. Diese Ausrichtung geschieht nicht aus Pflicht oder Zwang, sondern aus einer inneren Bewegtheit heraus.

Abgrenzung zur Selbstverwirklichung

Viktor Frankl grenzte die Selbsttranszendenz bewusst von der populären Idee der Selbstverwirklichung ab. Während Selbstverwirklichung oft als Ziel an sich verstanden wird, betonte Frankl, dass wahre Erfüllung nur als Nebenprodukt der Selbsttranszendenz entstehen kann. Wer nur um sich selbst kreist, verfehlt paradoxerweise genau das, was er sucht. Erst in der Hingabe an etwas, das größer ist als das eigene Ich, findet der Mensch zu sich selbst.

Diese Erkenntnis hat weitreichende Konsequenzen für unser Verständnis von Glück und Erfüllung. Glück kann nicht direkt angestrebt werden – es stellt sich ein, wenn wir uns sinnvollen Aufgaben widmen oder in liebevollen Beziehungen aufgehen. Frankl sprach in diesem Zusammenhang von der „Selbstvergessenheit“ als Voraussetzung für echte Freude.

Die anthropologische Dimension

Aus anthropologischer Sicht ist die Selbsttranszendenz ein Wesensmerkmal des Menschen. Während Tiere in ihrer Umwelt aufgehen und von Instinkten geleitet werden, kann der Mensch zu sich selbst und seiner Situation Stellung nehmen. Er kann über seine unmittelbaren Bedürfnisse hinausblicken und sich für Werte entscheiden, die jenseits seines persönlichen Vorteils liegen.

Diese Fähigkeit zeigt sich bereits in einfachen alltäglichen Situationen: Eltern, die nachts aufstehen, um ihr weinendes Kind zu trösten, transzendieren ihre eigenen Bedürfnisse nach Schlaf und Ruhe. Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, gehen über ihre persönlichen Interessen hinaus.

Formen und Wege der Selbsttranszendenz

Selbsttranszendenz kann sich in verschiedenen Formen manifestieren und auf unterschiedlichen Wegen verwirklicht werden. Frankl identifizierte drei Hauptkategorien von Werten, durch die Selbsttranszendenz möglich wird.

Schöpferische Selbsttranszendenz

Die schöpferische Selbsttranszendenz verwirklicht sich im Tun und Gestalten. Menschen gehen über sich hinaus, indem sie etwas in die Welt bringen – sei es ein Kunstwerk, eine berufliche Leistung oder die Erziehung von Kindern. Der Fokus liegt nicht auf der Selbstdarstellung, sondern auf der Sache selbst. Ein Handwerker, der sich völlig seiner Arbeit hingibt, erfährt diese Form der Transzendenz ebenso wie eine Wissenschaftlerin, die sich in ihre Forschung vertieft.

Erlebnismäßige Selbsttranszendenz

In der erlebnismäßigen Selbsttranszendenz öffnet sich der Mensch für die Welt und nimmt sie in sich auf. Dies geschieht in der Begegnung mit Kunst, Natur oder vor allem in der Liebe zu einem anderen Menschen. In solchen Momenten vergisst der Mensch sich selbst und geht ganz im Erleben auf. Die Liebe ist dabei die höchste Form dieser Transzendenz, denn in ihr sieht der Mensch die einzigartige Person des anderen und ermöglicht diesem, zu werden, was er sein kann.

Einstellungsmäßige Selbsttranszendenz

Die dritte und nach Frankl höchste Form ist die einstellungsmäßige Selbsttranszendenz. Sie zeigt sich, wenn Menschen auch in ausweglosen Situationen noch eine sinnvolle Haltung finden. Selbst angesichts von unveränderlichem Leid, Schuld oder Tod kann der Mensch über sich hinauswachsen, indem er zu seinem Schicksal Stellung bezieht. Diese Form der Transzendenz offenbart die tiefste menschliche Freiheit – die Freiheit, die eigene Einstellung zu wählen.

Praktische Bedeutung und Anwendung

Die Selbsttranszendenz ist nicht nur ein theoretisches Konzept, sondern hat konkrete Auswirkungen auf die therapeutische Praxis und die Lebensgestaltung.

In der Psychotherapie

In der logotherapeutischen Praxis spielt die Förderung der Selbsttranszendenz eine zentrale Rolle. Viele psychische Störungen entstehen oder verstärken sich durch übermäßige Selbstbeobachtung und Ich-Zentrierung. Die Therapie zielt darauf ab, den Blick wieder nach außen zu lenken:

  • Bei Angststörungen hilft die „paradoxe Intention“, sich dem Gefürchteten zuzuwenden, statt davor zu fliehen
  • Bei Depressionen unterstützt die „Dereflexion“, die Aufmerksamkeit von den eigenen Symptomen auf sinnvolle Aufgaben zu lenken
  • Bei Sinnkrisen werden neue Möglichkeiten der Hingabe an Werte und Aufgaben erkundet

Im Alltag und in der Gesellschaft

Selbsttranszendenz zeigt sich in vielfältigen Formen gesellschaftlichen Engagements. Menschen, die sich für Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit oder kulturelle Projekte einsetzen, leben diese Haltung. Auch in der Arbeitswelt gewinnt das Konzept an Bedeutung: Unternehmen, die über den reinen Profit hinaus einen gesellschaftlichen Beitrag leisten wollen, praktizieren eine Form organisationaler Selbsttranszendenz.

Die Paradoxie der Selbsttranszendenz

Das Paradoxe an der Selbsttranszendenz ist, dass der Mensch gerade dadurch zu sich selbst findet, dass er von sich absieht. Je mehr jemand um sein eigenes Glück kreist, desto mehr entgleitet es ihm. Je mehr er sich jedoch einer Sache oder einem Menschen hingibt, desto erfüllter wird sein Leben.

Diese Paradoxie zeigt sich auch in der modernen Glücksforschung: Menschen, die sich auf Sinn und Werte ausrichten, berichten über größere Lebenszufriedenheit als jene, die primär nach persönlichem Glück streben. Selbsttranszendenz erweist sich somit nicht als Verzicht auf Erfüllung, sondern als der authentischste Weg zu ihr. In einer Zeit, die oft von Selbstoptimierung und Ich-Bezogenheit geprägt ist, bietet das Konzept der Selbsttranszendenz eine befreiende Alternative – den Weg zu einem Leben, das über sich selbst hinausweist und gerade darin seine tiefste Erfüllung findet.

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