Existenzielle Entscheidungsfindung bezeichnet den Prozess, wichtige Lebensentscheidungen nicht nur rational oder emotional, sondern aus der Tiefe der eigenen Existenz heraus zu treffen. Es geht um Entscheidungen, die unser Leben grundlegend prägen – die Wahl des Lebenspartners, berufliche Weichenstellungen, die Frage nach Kindern oder der Umgang mit schwerer Krankheit. Solche Entscheidungen können nicht allein mit Pro-und-Contra-Listen getroffen werden, denn sie berühren unser innerstes Wesen. Die Existenzanalyse bietet einen Weg, diese tiefgreifenden Entscheidungen so zu treffen, dass sie unseren authentischen Werten entsprechen und wir später mit innerer Zustimmung zu ihnen stehen können. In einer Zeit der unbegrenzten Möglichkeiten wird diese Form der Entscheidungsfindung immer wichtiger.
Charakteristika existenzieller Entscheidungen
Existenzielle Entscheidungen unterscheiden sich fundamental von alltäglichen Wahlsituationen. Sie haben besondere Merkmale, die einen anderen Zugang erfordern.
Die Tragweite existenzieller Entscheidungen
Existenzielle Entscheidungen prägen den weiteren Lebensverlauf maßgeblich. Sie sind oft unwiderruflich oder nur unter großen Kosten revidierbar. Die Entscheidung für einen Beruf, für einen Lebensort, für oder gegen Kinder – all diese Weichenstellungen schaffen Realitäten, die das Leben für Jahre oder Jahrzehnte bestimmen.
Diese Entscheidungen betreffen nicht nur praktische Aspekte, sondern berühren die Frage: „Wer will ich sein?“ Sie sind identitätsstiftend und sinngebend. Deshalb können sie auch nicht delegiert werden – niemand kann diese Entscheidungen für uns treffen, auch wenn wir uns Rat holen können.
Die Ungewissheit des Ausgangs
Eine besondere Herausforderung existenzieller Entscheidungen ist die fundamentale Ungewissheit über ihre Folgen. Wir können nicht wissen, wie sich eine Partnerschaft entwickelt, ob ein Berufswechsel erfüllend sein wird oder wie wir mit einer neuen Lebenssituation zurechtkommen. Diese Ungewissheit kann lähmend wirken und dazu führen, dass Menschen wichtige Entscheidungen aufschieben oder vermeiden.
Gleichzeitig ist diese Ungewissheit auch Ausdruck unserer Freiheit. Wäre alles vorhersehbar, gäbe es keine echten Entscheidungen. Die Existenzanalyse sieht in dieser Ungewissheit nicht nur eine Belastung, sondern auch die Chance zu authentischer Lebensgestaltung.
Der Prozess existenzieller Entscheidungsfindung
Die existenzielle Entscheidungsfindung folgt einem Prozess, der verschiedene Ebenen der Person einbezieht.
Die phänomenologische Wahrnehmung
Der erste Schritt ist die umfassende Wahrnehmung der Entscheidungssituation. Was sind die Fakten? Welche Optionen stehen zur Verfügung? Wichtiger noch: Was löst die Situation in mir aus? Welche Gefühle, Bilder, körperlichen Empfindungen nehme ich wahr?
Diese phänomenologische Herangehensweise geht über rationale Analyse hinaus. Sie bezieht die Ganzheit der Person ein – Verstand, Gefühl, Intuition und körperliche Resonanz. Oft zeigen sich in dieser offenen Wahrnehmung Aspekte, die bei rein rationaler Betrachtung übersehen werden.
Die Werteklärung
Ein zentraler Schritt ist die Klärung der eigenen Werte. Was ist mir in dieser Situation wirklich wichtig? Welche Werte stehen auf dem Spiel? Diese Fragen führen oft zu überraschenden Einsichten. Manchmal entdecken Menschen, dass ihnen andere Dinge wichtig sind, als sie zunächst dachten.
Die Werteklärung kann durch verschiedene Fragen unterstützt werden:
- Was würde ich am meisten bereuen, wenn ich es nicht täte?
- Wofür könnte ich Opfer bringen?
- Was entspricht meinem Wesen am meisten?
- Welche Entscheidung macht mich stolz auf mich selbst?
Die personale Stellungnahme
Nach der Wahrnehmung und Werteklärung folgt die personale Stellungnahme. Hier geht es darum, aus der Tiefe der Person heraus Position zu beziehen. Es ist der Moment, in dem die Person sagt: „Das bin ich, das will ich, dafür stehe ich ein.“ Diese Stellungnahme kommt nicht aus dem Kopf oder aus dem Bauchgefühl allein, sondern aus dem Zentrum der Person.
Hindernisse und ihre Überwindung
Bei existenziellen Entscheidungen gibt es typische Hindernisse, die den Prozess erschweren können.
Angst vor Fehlentscheidungen
Die Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen, kann paralysierend wirken. Menschen versuchen dann, die „perfekte“ Entscheidung zu finden, die garantiert richtig ist. Doch diese Garantie gibt es nicht. Die Existenzanalyse lehrt, dass es nicht um die objektiv „richtige“ Entscheidung geht, sondern um die authentische – die Entscheidung, zu der wir stehen können.
Äußere Einflüsse und Erwartungen
Oft sind existenzielle Entscheidungen von Erwartungen anderer überlagert. Familie, Gesellschaft oder internalisierte Normen können den Zugang zu den eigenen Werten verstellen. Der Prozess der existenziellen Entscheidungsfindung erfordert den Mut, diese Einflüsse zu erkennen und sich davon zu lösen.
Die Bedeutung der inneren Zustimmung
Das Ziel existenzieller Entscheidungsfindung ist nicht nur eine Entscheidung, sondern eine Entscheidung mit innerer Zustimmung.
Das Gefühl der Stimmigkeit
Wenn eine Entscheidung wirklich aus der Person heraus getroffen wurde, stellt sich ein Gefühl der Stimmigkeit ein. Es ist mehr als rationale Überzeugung oder emotionale Begeisterung – es ist das Gefühl, dass diese Entscheidung „richtig“ ist, auch wenn sie schwierig sein mag.
Leben mit den Konsequenzen
Eine existenziell getroffene Entscheidung ermöglicht es, auch mit schwierigen Konsequenzen umzugehen. Weil die Person weiß, dass sie aus ihren tiefsten Werten heraus gehandelt hat, kann sie auch Schwierigkeiten als Teil ihres gewählten Weges annehmen.
Die existenzielle Entscheidungsfindung ist ein Weg zu authentischer Lebensgestaltung. Sie führt zu Entscheidungen, die nicht nur klug oder vorteilhaft sind, sondern die dem Wesen der Person entsprechen. In einer Welt voller Optionen bietet sie einen inneren Kompass, der zu einem erfüllten und sinnvollen Leben führt.